In diesem Blog-Artikel geht es einmal nicht um IT-Themen wie KI, Softwareentwicklung oder Cybersecurity. Es geht um die Demokratie, Diskurs und das Privileg mitzuentscheiden. Politik ist sicherlich kein Themenbereich, der täglich auf unserer Agenda steht und dennoch ist es auch für uns und die gesamte IT-Branche wichtig, die Fühler in Richtung Politik auszustrecken. Denn dort werden die Weichen für die Digitalisierung gestellt und zukunftsweisende Entscheidungen getroffen.
Für Unternehmen sind demokratische Strukturen und freie Marktwirtschaft grundsätzlich ein hohes Gut für den eigenen Erfolg. Gleichzeitig profitiert die Politik von der Expertise und Beratung seitens der Unternehmen am Markt. Wenn Wirtschaft und Politik an einem Strang ziehen, entstehen innovative Projekte wie die europäische Cloud-Plattform GAIA-X, für die wir aktuell Use Cases entwickeln.
Neben dem Einbezug der Wirtschaft darf auch die Perspektive der Bürger in der Politik nicht fehlen. Doch die Herausforderungen in der Gesellschaft werden immer komplexer und immer weniger Bürger fühlen sich verstanden und gut vertreten durch die Politik. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung glauben 58,8 Prozent der Deutschen, dass es nicht genug Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger gibt. Können Instrumente der direkten Demokratie wie Bürgerräte da Abhilfe schaffen?
Unsere Kollegin Julia Haggenmiller hatte in diesem Jahr die Chance, Teil eines bundesweiten Bürgerrates zu werden. Ende letzten Jahres erhielt sie unerwartete Post: Wolfgang Schäuble lud sie und 4.000 weitere Deutsche zur Teilnahme an einem Bürgerrat ein. Aus den Rückmeldungen wurden schließlich 169 Menschen ausgelost, die im Frühjahr virtuell zusammenkamen, um über die Rolle Deutschlands in der Welt zu sprechen.
Softwareentwicklerin Julia Haggenmiller
Bürgerräte sind noch eine recht neue Form der politischen Beteiligung. Sie sollen Demokratie offener und lebendiger machen. Doch wie funktioniert das? Wir haben mit Julia darüber gesprochen, wie sie den Bürgerrat erlebt hat und was mit den Ergebnissen passiert.
„Ein Bürgerrat besteht aus einer Gruppe zufällig ausgewählter Menschen, die miteinander über bestimmte politische Themen diskutiert und dann Empfehlungen für die Bundesregierung formuliert. Die Gruppe setzt sich ungefähr so zusammen wie die Gesamtbevölkerung im Großen: Alle Gruppen und Schichten sind dort idealerweise vertreten. Moderatoren und unabhängige Experten unterstützen die Teilnehmenden bei der Diskussion und der Zusammenführung von Ergebnissen.
Bei diesem bundesweiten Bürgerrat ging es in erster Linie um die deutsche Außenpolitik und Themenfelder wie Wirtschaft, Handel, Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Über mehrere Wochen hinweg haben wir uns in den Fokusgruppen virtuell zusammengesetzt, miteinander gebrainstormt und uns Empfehlungen überlegt. Zwischendurch und nach dem Abschluss der Diskussionen haben alle Gruppen ihre Ergebnisse dem gesamten Bürgerrat vorgestellt. Am Ende stimmten wir dann über sämtliche Vorschläge im Bürgerrat ab.“
Gesamtprozess Bürgerrat, Grafik: Mehr Demokratie e.V.
„Es gab am Ende mehrere Diskussionsrunden mit Parteimitgliedern. Dort haben wir von verschiedenen Parteien schon ein erstes Feedback bekommen. Die selektieren natürlich unsere Empfehlungen und suchen sich das heraus, was inhaltlich zum Parteiprogramm passt. Aber ich denke für jede Partei waren Sachen dabei, die sie unterstützen und mit auf ihre Agenda setzen werden. Die CDU hat beispielsweise drei unserer Empfehlungen in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Die Grünen wollen auch unseren Vorschlag für ein übergeordnetes Nachhaltigkeitsministerium mit in den Koalitionsvertrag schreiben.
Und dann gab es noch Gespräche mit einzelnen Parteien und Ministerien. Ich war zum Beispiel bei einer Diskussion mit dem Außenministerium dabei, an der auch Heiko Maaß teilgenommen hat. Mit unserer Richtung der Empfehlungen geht er voll mit. Über das ganze Jahr hinweg gab es viele weitere unterschiedliche Begegnungen mit Politikern und Gesprächsformate, in denen wir unsere Empfehlungen präsentieren konnten. Erst kürzlich habe ich an einer Diskussionsrunde mit dem Umweltministerium teilgenommen. Dieses große Echo stimmt mich zuversichtlich, dass unsere Empfehlungen auch tatsächlich Gehör finden.“
Übergabe der Ergebnisse des Bürgerrats „Deutschlands Rolle in der Welt“, Bild: Mehr Demokratie e.V./ Robert Boden
„Ich empfinde es als großes Glück, als eine von 170 ausgewählten Personen aus ganz Deutschland ausgewählt worden zu sein. Alleine deswegen lohnt es sich schon mitzumachen. Denn diese Chance erhält man nur einmal. Und ich fand es auch einfach mal spannend zu sehen, wie Politikern arbeiten. Im Bürgerrat läuft es ja ganz ähnlich ab wie in der Politik. Wir haben dort mit verschiedenen Experten diskutiert und uns schließlich unsere Meinung gebildet und Handlungsoptionen daraus abgeleitet. Ähnlich wie die Politiker haben wir hier auch die verschiedenen Zwickmühlen gesehen. Je nachdem mit wem wir gesprochen haben, konnten wir unterschiedliche Positionen gut verstehen. Das hat mir gezeigt, wie schwierig es ist, alle Anforderungen und Perspektiven in einer optimalen Lösung zu vereinen. Das war superschwer, aber auch sehr interessant.“
„Ich glaube, für jeden Teilnehmenden hat dieser Bürgerrat eine Auswirkung gehabt: Weil man das Gefühl hatte, tatsächlich gehört zu werden und dass die eigene Meinung zählt. Das ist eben direkte Demokratie. Meine Teilnahme an diesem Projekt hat mir gezeigt, dass wir in Deutschland unbedingt mehr Mitsprachemöglichkeiten schaffen müssen. Anders als bei Straßenumfragen haben wir im Bürgerrat die Chance gehabt, uns lange und intensiv mit Themen auseinanderzusetzen. Damit haben unsere Empfehlungen auch einfach eine ganz andere Qualität. Ich kann mir vorstellen, dass es auch auf alle anderen Bürger in Deutschland positive Effekte hat, wenn sie sehen, dass man die Politik direkt mitgestalten kann. Eine wissenschaftliche Evaluation des Bürgerrates hat ergeben, dass diese Form der Mitbestimmung auf Bundesebene sehr gut funktioniert.“
Mitarbeiter von der Initiative „Mehr Demokratie“ empfangen Anfang Oktober die Abgeordneten vor dem Berliner Parlament mit der Botschaft „Da seid ihr euch einig: Bürgerräte einführen“, Bild: Mehr Demokratie e.V.
„Das große Ziel ist jetzt, dass Bürgerräte auch im Gesetz fest verankert werden. Darin soll auch festgelegt werden, wie die Regierung mit den Empfehlungen umgeht. Zum Beispiel in welchem Rahmen sie diskutiert werden sollen und dass für nicht umgesetzte Empfehlungen eine Begründung erforderlich ist. Deshalb fanden in den letzten 6 Wochen etliche Gespräche mit Wahlkreiskandidierenden und Bürgern über Bürgerräte statt. Demnächst soll es nochmal eine Aktion vor dem Parlament in Berlin geben, um die Abgeordneten daran zu erinnern, die Bürgerräte auch einzuführen. Da werde ich versuchen, auch dabei zu sein.“
Über ihre Erfahrungen, die sie im Bürgerrat gesammelt hat, spricht Julia ausführlich im Podcast „Was uns betrifft“ von der Bundeszentrale für politische Bildung. Dort verrät sie, weshalb Bürgerräte im Gesetzt verankert werden sollten und warum Politik jeden etwas angeht. Danach erklärt die Politikwissenschaftlerin Mira Pütz, wie Bürgerräte unsere Gesellschaft verändern und zum Klimaschutz beitragen können.